Die erste Woche Puerto Natales, Chile, Patagonien. (Versuch einer grünen Reise, Kapitel 9, 26.01.16 – 04.02.16)

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Der Blick zurück in Hochachtung vor dem Massiv des Fitz Roy und dem Campo de Hielo dahinter.
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Und der Blick nach vorne in das allerletzte Violett irgendwo, wo wir kaum wissen, wo wir sind. Außer auf einer Piste und um uns herum der Horizont.

Und dann kommt das Ende ganz plötzlich. Nicht gleich, keine Angst, wir sind ja gerade erst sechs Wochen im Bus und zehn insgesamt unterwegs, eine Ewigkeit und bislang nur ein kleiner Teil unserer ganzen Reise. Und doch, seit heute ein etwas größerer. Der erste Oktober, die Hochzeit von Jeannes Bruder war immer unserer Deadline gewesen und die Maxime so grün wie möglich und also mit dem Schiff zu reisen unser Gebot. Viel haben wir recherchiert, um beides zu vereinen, nur zusammengehen wollte es nicht so ganz. Segelschiffe nehmen keine Kinder, war irgendwie klar, Frachter auch nicht, das hatten wir uns anders vorgestellt. Und Kreuzfahrtschiffe fahren einfach nur zu bestimmten Jahreszeiten in bestimmte Richtungen. Im Herbst in die alte Welt zurück gehört nicht zu ihren Routen. Nichts zu machen also: Im September würden wir nur fliegender oder schwimmender Weise zurück nach Europa kommen.

Und dann kamen ein paar andere Faktoren hinzu, die uns vor allem die Deadline noch einmal überdenken ließen. Im besonderen für Jeanne, die auch von den sieben Wochen zwischen Indien und Südamerika vier unterwegs war, würde eine Rückkehr am ersten Oktober 2016 über ein Jahr reisen bedeuten, nicht arbeiten, auf keine Minute Kinderbetreuung zurückgreifen können. Ein, verglichen zum Vollgas-Medizinstudium, ziemlich anderes Leben. Klingt geil? Find ich auch, aber ich habe auch mein fast normales Leben wie sonst: Klettern, Schreiben, Fotografieren, Veröffentlichen, mit den Kindern spielen. Ich kann verstehen, dass sie nach einem so strengem Studium jetzt auch Lust zu arbeiten hat. Sie erwägt also ein paar Monate früher mit den Kindern nach hause zu fahren, so könnten wir unser Linie treu bleiben, grün und entschleunigt zu reisen und mir blieben drei weiterer Monate und ein Frachter für den Rückweg. Wir schauen uns also nach Schiffen ab Mai um und finden: Eine Überfahrt von Kolumbien nach Lissabon für 140€ pro Erwachsener auf einem Kreuzfahrtschiff.

Schön, wenn grün reisen auch einfach mal viel günstiger ist als fliegen.

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Auf den Weg in den Torres del Paine. Die Landschaft hat sich von Steppe zu sehr trockenem Grasland umgestellt.
  1. Mai wäre das. Gegen Ende August hätten wir spätestens fahren müssen, macht drei Monate kürzer. Und weil die Überfahrt wohl nicht mehr lange so günstig ist, buchen wir für mich ein Ticket inklusive Ausstiegsklausel mit. Für alle Fälle. Die dann so aussähen: Drei Sommer in Folge. Auch keine Höchststrafe, aber trotzdem ein bisschen komisch. Will ich das wirklich? Würden wir unseren Bus dann irgendwo auf diesem Kontinent parken oder verleihen und die Reise in ein oder zwei Jahren Richtung Norden fortsetzen? Warum eigentlich nicht. Und sonst bleibt ja immer noch die alte Deadline für mich, dann aber natürlich ohne Familie. Fühlt sich jetzt bei aller Liebe auch nicht nach Höchststrafe an. (Wer hat Lust auf drei Monate Altiplano?) Entschieden wird später, jetzt erst einmal Hier und Jetzt. Puerto Natales.

Manchmal sind die unbekannten, kleinen Spots einfach nichts und nur die großen Gebiete wie El Chalten bocken so richtig (so passiert auf dem bisherigen Teil der Reise). Und dann ist es wieder genau umgekehrt. Wir wollen eigentlich nur ein paar Tage in den Nationalpark Torres del Peine und dann schnell wieder nach El Chalten. Zwischendrin ein paar Moves machen, um die Formkurve nicht abknicken zu lassen. Ich finde ein kleines Video über die Sierra Dorotea, suche noch über Google Maps gebeugt den Zugang und die Lage, kann nichts finden und mache dann etwas in heutigen Zeiten ganz unübliches: Ich schaue aus dem Fenster und da steht sie ja gleich über der Stadt, die Sierra Dorotea. Benannt nach der Tochter des deutschen Stadtgründers Eberhard. Es gibt hier auch Bier von José Fischer, der wohl in einem früheren Leben auch schon mal Joseph hieß, und natürlich einmal mehr Pazifik, rötliche Steppen bis Moore, je nach Niederschlag. Fühlt sich an wie Skandinavien. Und dann eben diese paar Blöcke dort unterhalb der langgezogenen Wand. Ein Abend bouldern und ich will schon sagen: „Hier bin ich durch! Der Sandstein mit eingelagerten Graniteiern gehört zum schönsten, was ich beklettert habe, aber es fehlt das Potenzial.“ Dann aber laufe ich noch einmal um den großen Routenblock herum und plötzlich stehe ich vor der Erleuchtung in Felsform. Eine sieben Meter hohe, zehn Meter breite Lippe aus hier extrem harten Gestein mit einigen wenigen Eiern, Löchern, Dullen. Zwei, drei krasse Highballs, für die wir weder die Matten noch die Spotter haben, und dann eine Linie, wie auf meinen mittelmäßig muskulösen Leib geschneidert: Nach rechts diagonal ansteigend (wie Drop a line, 8C+, und Des scènes bizarres, 9a+), leicht überhängend, schlechte, offene Griffe. Und vor allem kreative Moves. Erst in der zweiten Session komme ich dahinter, wie sich die zweite Crux klettern lassen könnte. Mit einem ziemlich absurgen, ausladenden Kreuzer über einen Hook auf dem einen großen Ei der Linie.

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Eine der ganz wenigen richtigen Fototouren während der Reise. Deshalb auch der super-ultra-hype Spezialeffekt des milchigen Wassers.

Es bleibt noch ein gutes Stück Arbeit, das dafür aber recht nah an das Endziel meiner Reise herankommen dürfte. 8C. Warum nicht gleich zum Auftakt? Der Wind und das Leben im Bus und unter freiem Himml haben mich schnell wieder leicht gemacht und knapp drei Wochen vollgas Bouldern auch schon wieder leidlich fit. Und dann kommt hier dazu, dass auch wenn es natürlich nicht annähernd so viele Linien wie in El Chalten gibt, sich die Situation mit dem Bus unkomplizierter darstellt. In Chalten wird man auf einen Stellplatz, der zwar nett, aber extrem frequentiert und dazu ohne Klo (wild oder im Häuschen) ist, abgedrängt. Alles ist dort vorhanden, aber eben auch ein bisschen dicht, nicht besonders patagonisch wild. Zumindest mit Kindern latent stressig. Sehr latent. Und wer nicht auf eine ganze Latte mittelschwerer Probleme angewiesen ist und es gerne etwas ruhiger hat, wird die Sierra Dorotea mögen. Natales ist nur 5km weit weg, der Blick geht weit, das Internetz im Tal ist top und nur 20km nördlich wartet der Lago Sophia mit weiteren Routen und Blöcken, zum Teil im selben, unwirklich ästhetischen Gestein, zum Teil in klassischem Konglomerat, und an einem Platz, der noch einmal schöner ist.

Nicht zu vergessen die Torres del Peine 100km nördlich. Drei Tage waren wir schon da, noch nicht mal drin im Park, denn zum Wandern war es mal wieder zu sommerlich, sondern nur vor seinen Toren. War auch schon herrlich. Aliénor und Jules amüsieren sich immer besser zusammen, wenn man nicht hinschaut, putzt er ihr schon mal mit einer ganzen Tube Zahnpasta die Zähne, die gerade in einem zweiten großen Anlauf heftig durchdrücken und ihr das Leben schwer machen. Oder sie stecken anderen Kunden in der Schlange an der Kasse Schokoladentafeln in die Einkaufstaschen. Spiele, die Aliénor inszeniert und Jules imitiert. Die Leute sind hin und weg, aber in einer viel angenehmeren Weise als in Indien, auch weil blond und süß hier nicht gar so unbekannt sind. Keiner kommt ohne ein Lächeln an den beiden vorbei, aber es will sie nicht gleich jeder mitnehmen. Ein sehr angenehmes Gefühl als Eltern.

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Flamingos. Offensichtlich.

Nach drei Tagen läuft das Projekt nach Maß. Ein Maß für die dicken Bohlen. Zwei Wochen sollte ich auf jeden Fall einplanen. Der erste Teil bis zum guten Ei gelingt mir nach drei vollen Sessions bislang nur mit zwei Mal Absetzen, dann ein ganz guter Ruhepunkt und der verrückte Kreuzer. Some work to do. Einen Namen gibt es allerdings schon: The cold and smelly breath of death. Im Riss, über den ich auszusteigen gedenke, verwest gerade ein Tier und wenn der Wind von unten mal kurz die Klappe hält, dann zieht es kühl und moderig herauf zu mir.

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Kaum zu erträumende Moves und dazu diese Eier, in den Fels gebacken. Oft reicht im Leben eben eine gute Linie und schon ist das eigene Herz irgendwie bis auf weiteres verbucht.

 

One thought on “Das vorzeitige Ende der Reise eine Ewigkeit entfernt und ein erstes schweres Projekt – Kapitel 9 einer grünen Reise”

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