Aufbruch ins wahre Patagonien südlich des 50. Breitengrades. (Versuch einer grünen Reise, Kapitel 7, 11.01.16 – 16.01.16)

El Chalten 1200km. Zu sechst sind wir jetzt, da unsere Freundin Romina aus Concepcion mit einer weiteren Freundin zu uns gestoßen ist. Ein letzter Gruß an das kleine El Malito der brennenden Bäume und traurigen Indianergeschichten und an Sheyla, die halb emigrierte Italienerin mit ihrer kleinen Tochter Sophia, die uns noch gestern Abend zu einem rauschenden Abend richtiger Pasta eingeladen hatte. Auf dem Holzherd hat sie für uns gekocht. Wie fast alle im Dorf. „Man gewöhnt sich daran.“, lapidar klingt sie. Ich fühle mich mit meinem Roots-Jurtenjahr irgendwie läppisch, da hatten wir sogar Gas.

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Lustvolles Vorspiel zur ewigen Steppe dahinter. Die Passage über die Anden.

Die Grenze ist nur einen Flussarm entfernt hier und zwar haben wir unsere Pässe und so weiter wieder, aber wir wären nicht wir, hätten wir wirklich alle unsere Papiere. Wäre ja auch vollkommen unspannend. Die schon im Hotel in Buenos Aires liegen gelassenen Versicherungspapiere für Südamerika hatten wir ja schon am Hafen vermisst, seitdem aber irgendwie auch nicht ersetzt und uns stets mit der deutschen Versicherung durchgeschlagen, die hier freilich nicht mal einen Kratzer am anderen Auto deckt. Und auf genau diesen Umstand wird gerade jetzt, nach fast vier Wochen und einer ganzen Reihe von Polizisten und den chilenischen Grenzern, zum ersten Mal jemand aufmerksam. Die argentinischen Grenzer nämlich. Also Jeanne erst einmal zurück nach La Palena, dort irgendwie die Versicherung kontaktiert, Dokumente rüber geschickt, ausgedruckt, wieder an die Grenze zurück, wo wir anderen fünf seit zwei Stunden warten, und schon öffnet sich die Schranke.

Was folgt, erinnert stark an den Konsum von LSD. Die Landschaft wird so schön, dass man sie schmecken kann und meint greifen zu müssen. Streicheln. Etwas trockener als in Chile reihen sich farbige Felsen an alleinstehende Höfe in kleinen Oasen, freie Flüsse durchkreuzen irgendwie goldene Graslandschaften, dazu niemand mehr, so richtig niemand, noch viel mehr niemand als schon im Tal zuvor, in dem auf 50km auch nur zwei Ortschaften lagen, und immer mal wieder eine Herde Kühe an einem Weiher. Die würde ich jetzt auch gerne schmecken. Irgendwie machen diese zufriedenen Kühe viel mehr Appetit als die unzufriedenen in unseren Massenställen.

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Leider versiegt der Facettenreichtum in gleichem Maße, in dem das Land flacher und trockener wird, dafür mischt sich aber ein anderer Kollege unter die Eindrücke. Der Star Patagoniens, den wir ja eigentlich noch gar nicht so richtig kennen gelernt haben: Herr von und zu Wind. Wahrlich majestätisch großspurig tritt er schon gegen Ende des ersten Fahrttages auf. Wir sind irgendwo auf der Ruta 40 (der Panamericana schlechthin) und befreien uns gerade von der Illusion, auf argentinischer Seite würden mehr Menschen leben, nur weil dort auf der 1 : 2 000 000 Karte jeder Hof eingezeichnet ist. Das Land ist vollkommen flach, aber immer noch golden, da fährt er uns an. Versucht uns erst von der Straße zu drängen und als wir dann Pause machen, weht er gleich mal die Kinder um. Man könnte er sagen, er herrscht uns an: „Was macht ihr hier? Raus aus meinem Land! Ich hab sie schon fast alle vertrieben, eure Menschenkollegen.“ Was offensichtlicher wird mit jedem gefahrenen Kilometer. Im Laden einer der wenigen Orte erzählt man uns, dass er tatsächlich an etwa der Hälfte der Tage des Jahres mit diesen 60-80km/h, die er gerade drauf hat, bläst. Nur im Winter natürlich viel kälter. Da möchte ich auch nicht wohnen.

Wir schaffen es noch bis zu einem versteinerten Wald bei Sarmiento, den wir dann am nächsten Vormittag erwandern, wobei Wald viel gesagt ist. Wüste träfe es eher, aber sehr bunte Wüste. Und die versteinerten Stämme sind imposant, das Holz wurde nach und nach durch Mineralien ersetzt und sieht jetzt, nach 60 Millionen Jahren, immer noch fast genau so aus, wie zur Zeit der Dinos. Nur eben etwas steinerner um die Nase. Jules liebt Dinos so sehr, dass er jetzt auch die Stämme mag.

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Wald aus versteinerten Bäumen.
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Da geht der Wind hin!

Der Reiz der Strecke lässt Richtung Atlantik und Pomodoro, ich meine Comodoro, Rivadivia immer mehr nach und wird schließlich von gigantischen Ölfeldern vor d,0er Küste vollends erdrosselt. Aber wer Auto fährt, soll sich nicht nur beschweren, er soll sich das bitte sehr ansehen: Wie eine extra ausgeschilderte Wiederbepflanzungsmaßnahme in einer Welt, in jeder Busch Jahrzehnte braucht, bis er einen halben Meter hoch ist, aussieht. Scheiße sieht sie aus! Auch wenn die Hundertschaften von unentwegt schnabelnden Fördereinheiten weitergezogen sein werden, bleibt diese Landschaft für lange Zeit, was sie in ein paar Jahren geworden ist: vernarbt.

In Comodoro verwundere ich mich instinktiv über die erste Ampel seit Puerto Montt vor zehn Tagen. Einkaufen und dann wieder Atlantik, unser treuer Begleiter während der Überfahrt vier Wochen zuvor. Unverändert meerartig und nass sieht er aus, nur ist die Küste hier unten viel karger. Kurz nach der Stadt steht eine Horde Männer Prügel schwenkend und Reifen verbrennend auf der Straße und ängstlich wie wir sind, fahren wir in guter Herrenmanier einfach halb über sie drüber und durch die Sperre hindurch. Wer nicht weicht, wird überfahren. Romina mutmaßt allerdings, dass es sich eher um Demonstranten, denn um Räuber handelte.

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Nationalpark Monte Leon. Atlantik und Wind, der die Luft flimmern lässt.

Zu Beginn dieses Nachmittages gibt es noch ein paar Hügel, Büsche, hier und da ein kleiner Baum, einmal ein Gürteltier, Kurven. Dann langsam immer weniger und schließlich nichts mehr davon. Einmal fahre ich 50km geradeaus durch die von flachem Bewuchs überzogene, bis an den Horizont ebene Steppe. Unser aller Schöpfer muss dieses Stück ganz kurz vor dem Menschen und also, so weit ich weiß, am Samstag Abend kurz vor der Prime-Time geschaffen haben, als er schon müde , vollkommen einfallsfrei und scharf auf die Feierabendhalbe war. Nur der Wind bläst unvermindert weiter.

In der Nacht dann wieder Hügel, einmal eine kleine Hafenstadt und Übernachten wie auch schon tags zuvor vor einem Nationalpark. Pumas, Guanacos (eine Art Lama), Pinguine und Seelöwen gibt es hier. Bis auf erstere bekommen wir alle in großer Zahl zu Gesicht. Ein Pinguin attackiert Aliénor, aber sonst bleibt alles ruhig. Seit langem wieder Wolken. Ein paar Tropfen Regen.

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Pinguine in Monte Leon.

Über Piste wieder weg vom Atlantik nach Westen. El Calafate, zwei Stunden südlich von El Chalten. Schwarz ist das Land der Guanacos, wenn man es von der Seite her betrachtet. Schwarz und immer noch ein bisschen flacher. Zwei Höfe auf 200km, dann bricht rechter Hand die Ebene zum Rio de Santa Cruz hin ab und wir beginnen den Reiz des eigentlichen Patagoniens zu verstehen. Größe, Weite, Wildheit. Großspurig, möchte man sagen. Überall Gaußsche Kurven, die der stete Wind über die Landschaft legt. Ich spiele bergab wechselweise mit Jules oder mir selbst Fußball gegen den Sturm. Dann der Lago Argentina. Milchig-türkis und schließlich El Calafate.

Irgendwie hatte ich ein touristisches Zentrum erwartet, aber natürlich ist auch hier nicht viel außen herum, nur der Ort in einer Kuhle gegen den Wind, am See. Hippies und Trekker. Nettes Ambiente. Abends Musik und Mate überall. Kennen wir schon. Trinken wir schon. Wir finden etwas wie eine Beschreibung zu einem Bouldersektor, ebenfalls am See, am Strand. Wir parken oben mit dem Bus, wieder offroad, wieder an einem Ort mit Blick über die Entgrenztheit des Seins direkt über den Blöcken. Ich steige ab für eine erste Runde, rutsche durch den feinen Sand und finde Sandstein, fein und schön, braun und ocker, rot mitunter, fleckig, meliert, schattiert, schraffiert. Ich liebe Sandstein als Fotograf und auch als Kletterer. Löcher, Sloper, Leisten, alles mit Schwung, alles mit Klasse. Der erste Volltreffer auf dieser Reise, klettermäßig. Ich komme hoch zu Jeanne und sage: „Da muss sich Chalten aber warm anziehen.“ Diesen Satz werden wir uns noch merken müssen.

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Nach einer dreiviertel Ewigkeit Ebene, bricht das Land auf einmal ab und ein Fluss meandert großspurig vor uns dahin. Rio Santa Cruz.
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Guanaco, so und nur so schöpfst du die Tiefe dieser Landschaft aus, die ich so noch nie gesehen habe. Nackt und braun und nur vom Wind bezogen.

Wir bouldern direkt am Wasser, über dem Wasser, alles erinnert an Annot und doch ist das Ambiente eine Nummer größer. Ein Tag wie aus dem Paradies, nur ich bin ganz Kartoffelsack, klar nach zwei Monaten mit insgesamt vier, fünf Boulder-Sessions. Aber hier zeigt sich endlich ein Ort für einen Weg heraus aus dem Formloch, zurück zum Klettern.

Alles scheint leicht hier in Calafate, Infrastruktur, Internet und Läden. Aber es scheint nur so, es gibt immer eine Möglichkeit für ein Problem auf diesen Straßen. Oder auch zwei. Erst fahre ich uns den zweiten Platten der Reise in einer Steinschikane. Ist alles kein Problem, wir haben ja noch einen Reifen unten drin. Seabridge, der dusselige Verschiffer, hatte uns Bilder des totalen Diebstahls an die Wand geworfen und ich also das Rad so fest verkettet und verschraubt, dass ich es jetzt nicht mehr losbekomme. Wir schrauben und werkeln uns einen ab und die Zeit an diesem Tag, an dem wir doch nur ein paar hundert Meter bis in den nächsten potenziellen Bouldersektor einen Strand weiter fahren wollten, geht ins Land wie unsre Nerven. Aus der Ratlosigkeit dann springt eine Feile wie der Retter aus der Not. Metallfeile ihres Zeichens und eigentlich zum Routenerschließen dabei, wenn mal ein Loch entgratet werden muss. Jetzt kille ich mit ihr in einer Viertelstunde die Kette, die das Rad fixiert. Juhu! Doch halt, da war ja noch ein Zweitens.

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Puerto Irma, Calafate. Wie man sich Bouldern vorstellt, wenn man heimlich in eine Ecke träumen geht.

Zwei hängt meist recht eng und direkt an und mit eins zusammen und so fahren wir nur dreihundert Meter weiter, erst durch ein unverschlossenes Gatter, kein Ding, macht man ja ständig in den Alpen, und dann auf einem Sandweg Richtung Blöcke. An einer Stelle liegt ein Stein, der irgendwie ein bisschen scharf aussieht, und in der Sekunde, in der ich alles entscheiden muss, sehe ich schon alles kommen. Aber die Angst im Mantel ihrer großen Schwester, der Vorsicht, obsiegt. Ich gehe weg vom Gas und weiß es schon, jetzt schaltet die Automatik in den ersten Gang runter, wir werden langsamer, und alles nimmt halt seinen Lauf. Wir sitzen fest. Und fester. Mit Speed hätten wir das Sandloch überflogen, so nicht. Eine Stunde und drei Versuche wieder los zu kommen später sitzen wir mit der Hinterachse einen Meter unter Straßenniveau im Sand. Ich hatte extra eine Doppelspur aus Steinen eingegraben, Via Apia genannt, aber alles umsonst. Kein Weg hier raus. Dann kommt auch noch die Besitzerin des Grundes, auf dem wir uns befinden, und echauffiert sich einen ab. Kommt gar nicht mehr von ihrem das alles hier gehört mir und deshalb muss ich in kapitalistischer Logik eine Fotze sein Trip herunter. Sie will uns keinesfalls helfen, so viel steht fest. Zugleich aber stecken wir mit einem Bus auf ihrem Grund und also muss sie wohl oder übel und ruft uns eine Art Pannendienst. Erleichtert sacken wir, die nicht einmal eine Möglichkeit zu telefonieren gehabt hätten, ab und warten erst einmal.

Weder wir noch der Typ, der dann mit seinem Riesenjeep kommt, checken aber, dass eine Automatikauto, auch auf N gestellt, einen Gang eingelegt hat, wenn man den Schlüssel zieht, und also bekommt auch er uns erst nach einer guten halben Stunde erneutem Verschieben und Verschaufeln von einer halben Tonne Sand aus unserem Loch heraus. Applaus, Applaus! Dann aber heize ich wie blöd durch Büsche und Disteln auf die richtige Piste jenseits des Tors zurück. Bloß nicht wieder stecken bleiben.

So geht der Tag ganz ohne Klettern, aber mit Esteban, dem Herausgeber des argentinischen Klettermagazins Vertical, der uns erneut und wärmstens El Chalten empfiehlt und also geben wir uns noch ein paar Stunden Internet am Camping und am nächsten Vormittag geht es der heiligen Stadt am Lago Viedma entgegen. El Chalten, 213km.

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Ein junger Kara Kara lernt erst vor mir zu fliehen und dann in den Büschen zu landen.

One thought on “Pinguine auf LSD und ein paar erste Blöcke – Kapitel 7 einer grüneren Reise”

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