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Der Salar Grande bei Susques im letzten Licht der Sonne…

„Entweder es bläst so weiter, oder es beginnt zu schneien.“ Das Internet im Ende-der-Welt-Dorf Puesto Sey 6km nördlich von Tuzgle geht nicht, oder niemand weiß den Code, da schon alle eingeloggt sind, auf jeden Fall müssen wir uns mit dieser Bauernregel-Prognose begnügen. Erst seit zwei Tagen sind wir wieder in diesem Nirwana aus Blöcken, aus dem heraus kein ehrlicher Kletterer wiedergeboren werden will, aber unserer Hoffnung auf eine gute Woche Vollgas (innerhalb von zehn Tagen müssen wir wegen der Papiere der Katze die Grenze zu Chile überschreiten) stellt sich etwas sehr Großes in den Weg. Es erstreckt sich in etwa zwischen Calama (Chile) im Westen bis nach Salta (Argentinien) im Osten, mehr oder weniger La Paz (Bolivien) im Norden und in etwa Coquimbo (Chile) im Süden und ist damit mindestens 50% größer als die Bundesrepublik. Und es besteht aus purem Föhnsturm.

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… und im Mondlicht ein paar Stunden später.

In Tuzgle wird schon in der ersten Nacht unser Bus sandgestrahlt, am Nachmittag kann man bereits nicht mehr klettern, weil Wind, Kälte und Trockenheit der Luft zu sogenannten Hyperbedingungen führen, in denen jeder Griff nur noch weh tut und davonrutscht, so glasig ist die Haut und so glatt der Fels. Morgens flaut der Sturm etwas ab und gegen Mittag und den wärmsten Stunden des Tages sind sogar ein paar gute Versuche in meinem Lieblingsprojekt drin (insgesamt habe ich ein halbes Dutzend Traumlinien auf dem Zettel). Und der letzte einer langen Session führt sogar zum Erfolg. „Zonda loco“ (verrückter Föhnwind) führt in 15 Zügen durch einen steilen Überhang, fast ein Dach, gespickt mit Löchern, athletischen Moves und einem Mantel auf vier Metern Höhe, für den ich nicht wirklich Matten übrig habe. Die den ganzen Körper fordernden Züge sind eine perfekte Projektionsfläche für mein gestiegenes Hömoglobin. Noch vor einer Woche wäre ich spätestens vor der zweiten Crux keuchend auf die Matten gegangen, jetzt schiebe ich den langen Kreuzer bis zum letzten nötigen Zentimeter immer weiter und kauere erst nach erfolgreichem Mantel und in Sturmböen „gebettet“ nach Atem ringend auf der Ausstiegsplatte. Die Füße an der Kante des Blocks und die für eine solche Meereshöhe typische rauschhafte Erschöpfung im Kopf. Ein Moment für das episodische Gedächtnis oder das persönliche Geschichtsbuch, der mich stark an Indien und Bacteria (8B+) für eineinhalb Jahren erinnert.

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Und darüber Vicunas am Pass.

Natürlich würde ich diese Woche gerne ganz mitnehmen, aber schon am Nachmittag des zweiten Tages wächst mit erneut aufkommenden Sturm die gesamtfamiliäre Erkenntnis, dass zwar ein leicht bescheuerter Kletterer wie ich alleine diesem Wetter hier harren wollen könnte (plus Schnee und obwohl bei diesem Wind und dieser Kälte an gute Bedingungen gar nicht zu denken ist), eine Familie mit zwei kleinen Kindern sich einen solchen Krampf aber sicher nicht antun muss. Hatte uns der berüchtigte Wind in Patagonien 2016 fast ganz verschont, zwingt er die Kinder und Jeanne hier zwar nicht in die Knie aber den ganzen Tag in den Bus. Jules entdeckt Kopfhörermusik und Right here waiting von Richard Marx für sich. Der sonst so daueraktive wie superstarke Fünfjährige schmilzt plötzlich sanft wie ein Lamm den Tränen nahe angesichts der dicken Schicht Kitsches über den Akkorden nur so dahin und wir Eltern können angesichts dieser so unerwarteten wie rührenden Persönlichkeitsveränderung nicht anders als in seine Tränen einzustimmen. Nur Aliénor (die die gleiche Musik auf den Ohren hat) kaut weiter geduldig und ungerührt ihre Salami. „Mehr Wust!“, lässt sie nach jedem Stück verlauten. Trotz allem stellt die Gesamtsituation aus Kälte und Sturm am Ende nicht wirklich eine Option dar, zudem wenn am Ende nur der Schnee wartet. Also lasse ich mich zur Weiterreise überreden, nur der eben befreite geniale Boulder will natürlich noch gefilmt werden.

Ich bin so kalt wie der Orkan, die Pads fliegen mitunter 50m auf einen Satz davon und nachdem mir bereits zuvor eine Kamera auf dem Stativ umgeweht worden war (zum Glück ohne Folgen für unsere Canon 6D, die ohnehin schon aussieht wie ein Boxer in Runde 17) zerlegt es nun die 7D inklusive 50mm/1.4. Das Objektiv scheint zunächst geliefert, doch darüber kann ich mich nicht einmal richtig ärgern. Meine ganze Mühe gilt den einzelnen Passagen, die ich zum Glück noch hinbekomme, das Ganze kostet mich aber einen solchen physischen Stress, dass ich die nächsten Tage unter Atemnot leide, wann immer ich mich anstrenge.

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Und der nächste Salzsee bereits auf dem Weg nach Chile. Den Sturm sieht man ihm nicht an.

Dieser vermutlich leichten pulmonären Höhenkrankheit kommen wir aber ohnehin mit Abstieg entgegen. Allerdings nur in Sachen Höhenmeter, auf dem Maß der Windgeschwindigkeit legen wir noch einmal einen Schippe zu. Mitten auf einem Salzsee Richtung Chile erlebe ich die erste Nacht meines Lebens mit durchschnittlich etwa 100km/h Windgeschwindigkeit. Obwohl wir mit dem Heck zum Sturm stehen, schwankt der Sprinter wie sonst nur auf den übelsten Pisten des Landes. Noch am nächsten Morgen, zu den entspanntesten Stunden des Tages, kommt Aliénor nicht aus eigener Kraft gegen den Wind zurück zum Bus. Auch die Katze weigert sich ordentlich ihr Geschäft zu erledigen, so stresst sie die entfesselte Luft, und kackt uns lieber in den Motorraum.

Der Rest des Tages entfesselt dann wieder eher unsere rechten Zeigefinger auf den Auslösern. Zwar verbraucht der Bus gegen den Sturm wohl die doppelte Menge Sprit, dafür zeigt sich uns der Paso de Jama nicht im üblichen Braun und Blau, sondern in einem Theater aus frisch gefallenem Puderzuckerweiß, Schneesturm, entrückten Wolken und schließlich einer Abfahrt auf San Pedro de Atacama zu, die statt dem üblichen staubigen Licht einer wüstenhaften Senke die Vulkane nur so in die Abendsonne meißelt.

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Geisterwelt am Paso de Jama.

Der Ort (eine Stadt ist es nicht wirklich) erinnert uns dann ein weiteres Mal an den eigentlich wohlbekannten Unterschied zwischen Chile und Argentinien: In Letzterem ist Tourismus eine Art oft irrlichtigen Familienunterfangens, im welt- und zolloffenerem Chile dagegen Big Business. San Pedro hat keine 10.000 Einwohner, aber mit Sicherheit 50 Reiseagenturen und selbst jetzt in der Nebensaison einige tausend Besucher. Außerdem kann man hier shoppen (auch das ist in Argentinien nicht so das Ding). Chilenen zeigen sich nur stark verdünnt in den Straßen. Alle anderen kommen aus dem reichen Westen (der hier eher Norden und Osten ist), denn auch nur sie können sich die in etwa durchschnittlich europäischen Preise in Cafés und Restaurants leisten.

Wir entscheiden uns für eine der Attraktionen im Umland, die Termas de Puritama. Zum Glück haben wir unser eigenes Vehikel, die 50€ Eintritt kommen uns auch ohne Agentur schon saftig genug vor. Der 36° warme, natürliche Fluss, in dem man mithilfe ein paar kleiner Dämme Becken gebaut hat, ist dann aber auch einer der magischsten Orte, die ich bis hier kennen lernen durfte. Nachdem der morgendliche Schwall Touristen durch die Anlage geschleust worden ist, haben wir vor dem nachmittäglichen Schwall den ganzen Bach für uns. Keiner von uns hat wohl jemals vier oder fünf Stunden nonstop im Wasser verbracht, aber erstens sind Schilf, Farbe und Temperatur höchst einladend und zweitens ist es der nun seit vier Tagen wehende Föhnsturm und die unter zehn Grad auf 3500m Höhe das genaue Gegenteil von einladend und so verlassen wir das Wasser nur, um von Becken zu Becken zu sprinten. Jules lernt Rückenschwimmen, von kleinen, wuchtigen Wasserfällen kann man sich erdrosseln lassen und gelegentlich schwirrt eine blaue Libelle vorbei. Wir gehen nur, weil die Sonne uns die Haut von den Schultern zu brennen droht.

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Noch immer am Paso de Jama. Schwarze Lagunen.
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Und Jules, der in den Thermen Rückenschwimmen lernt.

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