Wenn die schwersten Routen Boliviens auch subjektiv vollkommen vor der Realität aus Armut und Aufbruch, Anarchie und dem Sinnen nach Gleichheit der Indios verblassen.

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Das Gold von Curahuara. Vor dem Aufbruch in die (auch) bolivianische Wirklichkeit.

Der Minibus vor uns tut nur einen kleinen Hüpfer, Ton gibt es gar keinen dazu. Ich denke: „Oh, ein kleiner Auffahrunfall.“ Wir halten hinter dem Lastwagen ohne Rücklichter, der in der Steigung nicht weiterkam und dem darauf aufgefahrenen Sammeltaxi und erinnern uns der Warnungen der Chilenen, man solle in Bolivien nicht nachts fahren. Vor allem wegen der oft fehlenden Lichter.

Der Fahrer des Lastwagens geht an uns vorbei, bedeutet uns weiter zu fahren. In Jeanne brodelt das Arztsein, aber nach den Erfahrungen mit den Krähenfüßen und den bewegungslosen Körpern auf der chilenischen Autobahn etwa zwei Wochen zuvor (die sich später am wahrscheinlichsten als von der Polizei gestoppte Drogenkuriere herausstellten) sind wir vorsichtiger geworden. Außerdem sieht ja auch nicht weiter schlimm aus, was passiert ist.

Also passieren wir (mit geschlossenen Fenstern) den Minibus. Die Fahrertür steht offen und dann hören wir auch die Schreie aus dem Inneren. Statt des Beifahrerplatzes sind nur noch die Metallträger der Ladefläche des Lastwagens zu sehen. Wir können nicht erkennen, ob dort jemand saß, wenn aber, kann er nur noch schwerlich am Leben sein. Und der Bus war angesichts des Gepäcks auf dem Dach wohl voll beladen.

Mit einer ordentlichen Karosserie, angelegten Gurten und Airbags (ganz zu schweigen von Rücklichtern zum Preis von drei Dollar das Stück) wäre bei einem Aufprall mit vielleicht 30km/h kaum etwas passiert. All das ist in Bolivien aber die krasse Ausnahme. Wir fahren beklommen weiter und hoffen, dass die Schreie aus Angst getrieben und der Beifahrerplatz leer gewesen waren.

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Steilste Stadt der Welt? Einfahrt von El Alto ins 500m tiefer gelegene La Paz.

In der nächsten Kleinstadt können wir endlich eine funktionierende Handykarte auftreiben, unsere Angst vor den Menschen (und nicht ihrer Fahrweise) wird sich sowohl hier als auch an anderen Orten in den nächsten Tagen als unangebracht herausstellen. Zwar drücken immer wieder Neugierige ihre Nasen an den Scheiben platt, Überfälle gibt es aber wohl nicht mehr als  routein chilenischen Vorstädten, als in Argentinien und wohl deutlich weniger als in Peru.

Noch immer in der derselben Nacht trudeln wir dann noch vorsichtiger als zuvor in La Paz – oder besser in El Alto – ein. Diese Vorstadt, die bereits einen nicht unerheblichen Teil der 85% indianischer Bevölkerung vom Land abgesaugt hat, ist längst größer als das darunter gelegene La Paz selbst. Glücklicherweise herrscht abends kaum Verkehr (El Alto mit viel Verkehr werden wir einige Tage darauf erleben dürfen) und wir schieben uns so in aller Ruhe an den Abgrund – den Rand des Altiplanos – heran.

Plötzlich leuchtet unter uns La Paz auf. Eine gute Million Menschen in einer eng bebauten Landschaft aus Tälern, Schluchten und einem riesigen, gute 500 Höhenmeter lang abfallenden Hang. Überzogen von Lichtern. Die wohl spektakulärste Einfahrt in eine Stadt, an die ich mich erinnern kann. Und die steilste. Da trotz der knapp 4000m Höhe hier praktisch nie Schnee fällt, werden Rampen auch mit über 30% Steigung gebaut. Runter noch einigermaßen machbar. Hinauf werden wir erst in ein paar Tagen wieder müssen.

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Optischer Dominator der Stadt. Der knapp 6500m hohe Illimani.

Zunächst werden wir mit Charme umgarnt. Juan – den wir von einem Jahr aus Patagonien kennen – und seine Freundin empfangen uns erst in der WG in der Stadt und dann im Haus der verstorbenen Eltern eine knappe halbe Stunde außerhalb. Auf hier nur noch knapp über 3000m blühen überall Blumen, die Sonne fällt seit einer unvorstellbar langen Zeit (Brealito Ende April?) wieder durch ein Blättergeflecht auf uns herab und das Haus ist selbst und mit weit mehr Liebe als alle anderen Wohnformen, die wir auf diesem Kontinent bislang besucht haben, gebaut. Wir machen Pizza im Steinofen und lassen uns von diesem Land im Herzen Südamerikas erzählen. Wir befinden uns buchstäblich am fast unwahrscheinlichsten Platz dieser Welt und werden doch mit einem Gefühl von Heimat durchspült, bis wir irgendwann in den Morgenstunden unter einem Dachstuhl aus Eukalyptus auf die Matratzen sinken.

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Juan am Konglomerat der “Galletas” quasi in La Paz.

Eigentlich wollen wir schon am Tag darauf nach Penas, einem Klettergebiet am Lago Titicaca aufbrechen, die Muße des Gartens lässt uns aber nicht mehr los und außerdem wartet ein paar Kilometer flussaufwärts ein nettes Konglomeratgebiet mit einem nicht ganz leichten Projekt auf. Die knapp 20 Züge lange Crux gibt mir (trotz „nur“ 3400m Höhe) atemtechnisch einiges auf und schließlich kann ich die Rute (deren Name auf Aimara Augenblick und Unendlichkeit bedeutet, den ich jedoch werde nachreichen müssen) erst im fünften Versuch am dritten Tag durchsteigen. Eine – vor allem für nicht in La Paz geborene Kletterer – ordentliche 8b+ und die schwerste Route des Landes.

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Und noch einmal der gleiche Berg (fast ein bisschen wie die patagonische Fitzroyeritis). Diesmal über dem Valle de las Animas oberhalb der Stadt.

Zwischendrin kommt Jeannes Mutter an und wir verbringen eine Nacht in einem malerisch dem Illimani gegenübergelegenen Hotel. Ein äußerst eindrucksvoller, freistehender Vulkan, knapp 6500m hoch und das südliche Ende der Cordillera Real. Allerdings liegt die Unterkunft ebenfalls auf 3800m, was einer sanften Akklimatisierung nicht entgegenkommt.

Wir trennen uns also in der Folge für eineinhalb Tage, die Jeannes Mutter noch im Haus mit Garten auf 3000m und wir in Penas am Lago Titicaca verbringen. Eigentlich nur 70km entfernt gleicht die Fahrt durch das komplette La Paz und das komplette El Alto mit unseren drei Tonnen einem veritablen Alptraum für wohl jeden europäischen Autofahrer. Unsere Halbautomatik ist zwar theoretisch für Rampen wie diese ausgelegt, aber nur im Turbo. Und der Turbo schaltet sich in Schrittgeschwindigkeit nicht zu. Wir passieren einen Markt mir gefühlt eintausend Menschen und fast ebenso vielen Einmannständen, unzählige „Huggel“ zur Geschwindigkeitsbegrenzung, Schlaglöcher soviel man essen kann, und natürlich viele, viele Lastwägen, die angesichts der Steigung kaum noch voran kommen. Was auch uns zwei- dreimal passiert. Wir müssen dann im dichten Verkehr erst rückwärts oder quer auf die Straße rangieren, um den nötigen Schwung für den nächsten „Huggel“ oder die nächste extra steile Rampe aufzunehmen.

Dann sind wir oben und in der ebenfalls eine gute Million (auf der dreifachen Fläche, da fast komplett einstöckig) Menschen umfassenden Baustelle El Alto. Sprit gibt es nur gegen in der Regel eine Stunde Anstehen, überall sind die Straßen mit riesigen Erdhaufen blockiert und man wird so konsequent abgedrängt, dass die einzige Möglichkeit, nicht im Gegenverkehr zu landen, der ständige Einsatz der Hupe und des massigen Körpers unseres im Vergleich sehr großen Sprinters ist.

Ich gewöhne mir schnell diese neue Haltung der Hände auf dem Lenkrad an, in der man in Sekundenbruchteilen mit beiden Handtellern gleichzeitig in dichten, aggressiven Intervallen auf die Hupe schlagen kann. Zwar warnt mich Jeanne immer wieder energisch mit ausländischen Kennzeichen könne ich mir nicht erlauben, den anderen Fahrern z.B. den Vogel zu zeigen, während ich sie akustisch von der Spur dränge. Aber das ist mir egal, mein Bus ist gepanzert und die Türen natürlich ständig verriegelt. Außerdem bin ich zwei Köpfe größer als der durchschnittliche Boliviano. Zudem ist mein Verhalten im Vergleich noch immer als sehr zurückhaltend zu bezeichnen.

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Blick vom Parkplatz der Felsen von Penas auf die gesammelten 6000er der Cordilliera Real.

Penas, in dem der erste Indio auf dem Weg zur Unabhängigkeit von den Spaniern fiel, stellt dann das krasse Gegenteil der überhitzten Stadt dar. Ein malerisch gegenüber einem halben Dutzend Sechstausendern gelegenes Dorf, dessen Umland hier dank der Feuchtigkeit des nahen Sees (groß wie ein kleines Meer) von einem feinen Netz fruchtbarer Felder überzogen golden in der ewigen Wintersonne liegt. Der Fels ist nach dem vom so allgemeinen wie geilen Vulkanaschegestein der letzten Monate abweichenden Konglomerat der Stadt ebenfalls verschieden. Zwar ist auch er vulkanischen Ursprungs, wird aber durchzogen von mitunter Waben, mitunter Löchern, mitunter Zapfen, mitunter eingebackenen Steinen und dann wieder granitähnlichen Formen. Dazu dieser Blick wie aus einem Bilderbuch für junge Götter.

Den ersten Abend mit zwei Versuchen widme ich der zweitschwersten Route des Landes „Volveré y seré milliones“. (Der letzte Ausspruch des ersten im Unabhängigkeitskrieg sterbenden Indios: „Ich werde wiederkehren und wir werden Millionen sein!“, den Präsident Evo Morales, selbst Aymara, das indigene Volk des bolivianischen Hochlands, und erster Verfechter der krassen Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung im neuen Jahrtausend in gewisser Weise wahr macht.) Dann darf ich ein weiteres offenes Projekt von Juan versuchen. Plötzlich sehr technische Leistenkletterei mit einem 8A+ Boulder zu Beginn dürften der Nährboden für die erste 8c+ des Landes sein. Vielleicht sogar mehr. Dafür werden aber ein paar Tage mehr ins Land unter den Bergen gehen müssen.

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Zweitschwerste Route des Landes in Penas (Name kommt noch) mit Blick auf den Huayna Potosi (6088m).
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Und Yoga nebenan.

Nachdem wir morgens bereits eine haarsträubende Piste zum See (und dem Handynetz) gefahren waren, machen wir uns des Abends auf, um Jeannes Mutter von ihrem Refugio einer langsam besser laufenden Akklimatisierung abzuholen. Es ist das Wochenende des Nationalfeiertags und nicht nur brauchen wir für die Strecke von 80km drei Stunden, es ist auch die irrste Fahrt meines Lebens (und also gleichzeitig der letzten Woche, wenn man einmal von Indien, wo ich nicht am Steuer sitzen musste, absieht). Zunächst schickt uns Google Maps über einige Erdhaufen, auf denen wir jedes Mal voll aufsitzen, in eine Sackgasse, dann wechseln wir zu Maps Me, das wenigstens nur existierende Straßen im Programm hat. Diese allerdings sind zum Teil bis zur Bewegungslosigkeit verstopft. Es ist kein Stau, wie ich ihn kenne, wo man eben langsam aber stetig vorankommt, und wenn dir wirklich jemand auffährt, dann hat er eine Haftpflicht. An diesen Abend herrscht in El Alto nur noch Anarchie. Die Polizisten, die sonst dafür sorgen, dass die Fahrer sich an die Ampeln halten, feiern selbst bereits, Rechts vor Links ist eine ohnehin unbekannte Regel in einem Land, in dem es dank blühender Korruption billiger ist, sich den Führerschein zu kaufen, als Fahrstunden und Prüfung zu absolvieren und will man wissen, woran man sich halten kann, dann am ehesten nach der Devise: „Andersherum, als es im Gesetz steht.“ Hauptsache hupen.

Auch ich fahre jetzt über rote Ampeln, wie es mir gefällt, biege in Kreisverkehre ohne zu Schauen ein (denn auch diese Regel wird genau verkehrt herum appliziert) und dränge gnadenlos alles Kleinere als uns selbst (also alles außer Lastwägen) inkl. Fußgänger an den Rand der Straße ab. Einmal stehen wir zehn Minuten in einem Kreisverkehr, ohne dass noch irgendetwas sich bewegen würde, und hören dem anschwellenden Hubkonzert zu.

Unbegreiflicherweise unbeschadet verlassen wir schließlich die Verkehrsvorhölle El Alto und als man mich in einer Verkehrskontrolle etwas weiter rügt, mein Nummernschild sei nicht ordnungsgemäß angebracht, breche ich beinahe in schallendes Gelächter aus. Aber man soll Polizisten hier ja nicht provozieren, schließlich läuft man sonst Gefahr ein paar Euro Schmiergeld zahlen zu müssen. (Warum lache ich also nicht?)

Schließlich tauchen wir vollkommen fertig mit den Nerven erneut in unseren von Juan geliehenen und einer hohen Mauer umgebenen Schutzraum mit Garten und Blätterdach ein. Und fragen uns, wie wir angesichts eines verlängerten Wochenendes voller Party diese Stadt, die keine Umfahrung kennt, je wieder verlassen sollen…

Der dem Nationalfeiertag folgende Montag ist ebenfalls noch frei. Zur Erholung. Und entgegen Juans Aussagen kommen wir eigentlich ganz gut wieder aus der Stadt heraus. In Penas finde ich (leider?) eine Alternative zum 8A+ Boulder im noch offenen Projekt und zwei Versuche später steht dort eine sehr schöne, 30m lange 8b. Name ist noch in Produktion.

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Erstkontakt mit dem größten See des Kontinents, Lago Titicaca.

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