Endlich volle Lotte bouldern, endlich Berge, wie man sie kitschiger nicht malen könnte, endlich tausende Touristen. Endlich geschenkt. (Versuch einer grünen Reise, Kapitel 8, 17.01.16 – 24.01.16.)

Wir merken nicht sofort, was das hier ist, dieses zweite Dorf nach El Calafate in der totalen Ödnis, in der sonst nur alle 50km eine Estancia, ein Gutshof, wenn man so sagen will, liegt: El Chalten. Es ist ein Brennpunkt, eigentlich. Das Nichts des ganzen Landes wird aufgeworfen, verworfen, überrollt von ein paar Kilometern Fülle. Man könnte dem Schöpfer unterstellen, dass ihm nach diesem Meisterwerk, das sogar Weltkulturerbe ist, ohne irgendetwas überragend Menschliches zu haben, nichts mehr eingefallen ist und dass er deshalb diese öde Pampa schuf dahinter, westlich. Aber die war ja vorher schon vorher da, sie kam ja vor den Anden aus dem Ozean und die warfen sich erst hinterher auf wie Revolutionäre gegen die Eintönigkeit.

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Gibt es irgendwo eine ähnliche Ansicht eines Berges aus 100km Entfernung mit einem Gipfel 3200m über sich? Erste Anfahrt auf El Chalten.

Schon auf dem Weg hin in dieses Tal wird man überfallen von den Gipfeln, die jeder kennt, die Kitsch sein müssten, eigentlich, und die doch so dermaßen übertrieben großartig, hoch, steil und von weitem sichtbar 3000m aus der Ebene hochschießen, das sie einer jeder Kategorisierung entrinnen, wie Wasser über Entenfell. Kommt man näher, eröffnet sich dann noch eine weitere Dimension dieses Brennglases, in dem sich alles, was dieses Land kann, zu vereinen scheint. Wie eine feine Spur Leben liegt ein, und nur ein, grünes Tal voller wilder Eichenwälder, weit verzweigter Flüsse und abgeschliffener Hügelkuppen zwischen dem ewig toten Eis des Campo de Hielo und der ewig halbtoten Steppe der Pampa. Irrigerweise hatte ich mir dieses Land immer als eine grüne Weite unter etlichen zackigen Gipfeln vorgestellt, und natürlich gibt es mit den Torres del Peine zumindest südlich auch noch andere vergleichbare Orte, aber in der Ost-West-Ausprägung wird diese Landschaft, ihre Fauna und Flora, nur durch diese Kombination aus chilenischem Niederschlag und argentinischer Wärme möglich. Und eben auch nur auf ein paar Kilometern.

Gleiches scheint im Übrigen auch für die Einmaligkeit des Gesteins zu gelten. Schon wenig südlich geht der Granit in deutlich schrofigeres, dunkles Urgestein über. Nadeln wie diese stehen ebenfalls erst wieder im Torres del Peine Nationalpark.

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Bald kann ich nicht mehr anders, als abzudrücken, wann immer ich ihn sehe: Fitz Roy, abgedroschen und zu spektakulär, um zu widerstehen.

Wir tauchen ein in den Mikrokosmos von Touristen, Trekkern, Alpinisten und Kletterern. Man kann den Ort an sich nicht schön nennen, dies hier ist nicht Arco und kein Dorf in den Gorges du Tarn, aber so erfüllt vom Geist des Bergsteigens, dass auch das Wellblech dem nichts tun kann. Wir staunen immer noch. Man kann lange staunen über Cerro Torre und Fitz Roy.

Mit uns reist wie schon seit sieben oder acht Wochen in der roten Badehose der Sommer. Strum hätte uns vertreiben sollen, Kälte und Schnee im Januar, aber es brennt stattdessen runter und der Wind gilt als weitgehend eingeschlafen. Fast zu heiß zum Bouldern. Man hatte uns erzählt, von El Chalten ließe es sich in jede Himmelsrichtung weg laufen und man befände sich unter Blöcken, aber das scheint etwas übertrieben zu sein. Hier und da ein Boulder, ein Stellplatz für Wohnmobile, vom dem aus man losläuft und ich denke an den Satz aus El Calafate angesichts des dortigen Sandsteins: „Da muss sich Chalten aber warm anziehen.“ Durch die Weiden am Wegesrand kämmt sich der Wind und mehr als fünf, sechs Blöcke kann ich von hier nicht sehen. Und dann verstehe ich, tauche ich ein. Es ist nicht nur die Zahl, die zählt, es ist die Art der Boulder. Perfekter Granit, griffig, hoch und trotzdem gute Landungen. Zehn Boulder pro Fels, wenn nicht mehr. Viele schwere Linien. Überall Chalk. Juhu! Endlich richtig klettern, einfach konsumieren, nicht mehr suchen, bürsten, durch die Büsche schlagen, sondern Matte hin und hoch. Ich fühle mich befreit. Dazu dieser Ort, die vielen jungen, netten Leute: die Einfachheit des Seins.

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Eines schönen Morgens unweit des Cerro Torre.

Topo gibt es nicht und braucht man nicht, die Form dürfte nach zwei Monaten ohne quasi irgendwas eh immer noch sehr eingeschränkt sein. Ohne es zu wissen mache ich am ersten Tag eine 8A und am zweiten flashe ich die nächste um ein Haar. Schon mal viel besser als Choriboulder oberhalb von Santiago an Weihnachten, wo ich noch mit einer 7C zu kämpfen hatte. Die 8B sind aber schon ein bisschen ernster, manche erstaunlich abgegriffen, der Sommer zu frontal. Aber die Züge gehen schon und eigentlich will ich ohnehin am liebsten viel und gradlos in diesen tollen Linien wuchern wie zielloses Unkraut. Oder so ähnlich.

Die Locals sind liebenswürdig, zeigen uns die etlichen versteckten Blöcke, ihre Kletterhalle, Estevan von der Kletterzeitschrift bietet uns an Fotos zu machen. Ich liebe es, als Kletterer empfangen zu werden. Es gibt nichts besseres.

Aliénor läuft jetzt seit einem Monat, ganz genau, und steigt schon selber von den schillernden Lagunen unterhalb der Granitzähne ab, und kann schon rückwärts gehen, in den Wind hinein und wieder raus. Jules ohnehin, er rennt bergab und steigt bergauf, wir wandern ernsthaft mit zwei Kindern. Auch nicht selbstverständlich, aber unverzichtbar in einer Gegend wie hier.

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Baby Speck lernt laufen.

Kondore segeln über uns und dann steht plötzlich ein Kletterbekannter aus Fribourg vor uns und während einer Session bouldern schmieden wir sogar einen alpinen Plan. Ein Plänchen eher, aber wenn man schon hier gewesen ist, sollte man dann nicht auch auf einer dieses Nadeln gestanden haben? Das ewige Eis gesehen? Würde man es denn bereuen, hätte man es nicht getan?

Geht so. Die Boulder sind zu gut und die Form zieht wieder an, genauso wie der Wind. Plänchen verweht. Stattdessen schon mal nah dran am ersten 8B und eine super Session mit zig anderen Boulderern. So darf das Leben sein. Platt machen wir uns auf den Weg für eine Woche Torres del Peine, vier Stunden südlich, und wollen fit und frisch dann wieder kommen zum Boulderfestival Anfang Februar. Hier im Brennpunkt Patagonischer Schönheit. El Chalten.

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Endlich wieder Wald. Lengas und das hohe Gras, das dich verschlingt mit seinen Blöcken überall dazwischen.

One thought on “Endlich El Chalten – Kapitel 8 einer grüneren Reise”

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