Eine immer wieder ins Surreale kippende Woche in der wunderbaren Landschaft des Futaleufu. (Versuch einer grünen Reise, Kapitel 6, 03.01.16 – 11.01.16)
Ich finde im Übrigen auch, Alltagsprobleme sind was für Pussys. Wo was einkaufen, wann wohin fahren, was machen, wenn diese Straße nicht passierbar ist, wie diese komischen fetten, beißenden Fliegen bekämpfen? Wo endlich mal wieder klettern? Wie wäre es mal mit etwas Handfestem: Alle wichtigen Dokumente weg!
Wir wollen auf die Fähre südlich von Puerto Montt, aber wir finden die Pässe nicht, den Fahrzeugschein, die Führerscheine, Verischerungsdokumente. War alles zusammen in dieser Klarsichtfolie. Wo nochmal? Vor Santiago, an der Grenze. Und seitdem? Nicht mehr bewusst gesehen. Geil. Zum Glück können wir in dieser Sache gerade gar nichts machen. Ist nämlich Samstag. Auf die Fähre lassen sie mich auch mit meiner Gesundheitskarte, die anderen haben noch ihre IDs (Perso auf Schwitzerdütsch). Umkehren ist eh keine Option. Das Reisen so ohnehin weit spannender.
Wir nehmen zwei junge Holländer mit, die gleich mal auf dem nächsten Stück Piste in die Tüten kotzen, sonst aber sehr nett und unterhaltsam sind. Regen tropft auf die Scheibe. Regen auf Autoscheibe, ja genau, das hatten wir zum letzten Mal vor Indien, also im August. Verrückt. Leider drückt es in der steten Vibration das Wasser auch durch und es tropft aufs Lenkrad. Werden wir beheben. Radio haben wir ja auch noch nicht eingebaut. Lampen ebensowenig. Ahjajajahippiehippieyeä! Es gibt immer was zu tun. Oder so ähnlich.
Nationalpark Pumalin. Feucht. Tropisch beinahe. Fremde Vogelrufe. Mein erster Regenwald und Nebel. Gigantisch anders. Die Welt ist so viel größer, als man es von Europa kennt. Gegen Mittag dann Erleichterung. Der Papierkram ist in Santiago bei Coni geblieben. Muss er nur noch seinen Weg zu uns her finden. 2000km befindet er sich nördlich von uns. Solange: kein Grenzübertritt. Kein Argentinien. Kein Piedra Parada, Klettergebiet bei Esquel, in das wir wollen. Wir werden also auf dieser Seite Felsen, oder was auch immer, suchen und finden ein Kajakeldorado. Futaleufu. Türkiser Fluss und schwarze Felsen und alles ist wie bei uns, den Kletterern, nur eben mit Booten und Kajakmontur: entspannte Stimmung, Bier und lange Schlafen, Kiffen, klar, Zusammensitzen, Lagerfeuer und Sprachen aller Herren Länder. Die Leute sind offen und extrem freundlich, auch zu uns, sie interessieren sich fürs Bouldern und ich werde den Verdacht nicht los, dass es da doch einen Unterschied in Sachen Offenheit und Nettigkeit gibt zwischen Menschen, die in ihrer Leidenschaft aufgehen, und denen, die genau das Tag für Tag am Schreibtisch oder sonst wo verpassen.
Man empfiehlt uns eine kleine Wand am Fluss und die ist gar nicht schlecht, ein paar erste schwere Züge nach nun schon wieder zehn kletterfreien Tagen seit Choriboulder oberhalb von Santiago an Weihnachten. Inzwischen schreiben wir den fünften Januar. Aber es zieht uns weiter. Angeblich gibt es weiter oben im Tal mehr Potenzial und klar, die Wand und der Spielplatz mit Sand und Wasser unter dem netten Campingplatz sind super, aber wir wollen mehr. Wie immer. Wir sind ja Menschen.
Und verpassen so die Hauptbotschaft dieser fünf Tage am magischen Fluss Futaleufu. Bescheidenheit. Nimm was man dir hinreicht, auch wenn es wenig ist, denn du kannst nicht wissen, ob du dort wo du hingehst, nicht gar nichts haben wirst. Nur in Sachen Bouldern versteht sich, denn ansonsten ist das hier ja einen Art Paradies.
So läuft es dann auch. Immer wieder Felsen gegen den Hauptort des Tales ganz oben hin, aber nichts, was besonders wäre, oder eben erreichbar, denn eines versteht man hier sehr schnell: Wald ist nicht gleich Wald. Bei uns ein Schattenspender, ist er hier schon nach zwei Metern nur noch als Wand zu bezeichnen. Kein Durchkommen. Was nicht direkt an der Straße liegt, vergiss’ es!
Wir verirren uns in ein Seitental unweit der argentinischen Grenze, kilometerweit fahren wir eine immer schlechteren Feldweg entlang. Man hat uns gesagt, hier gäbe es bestimmt etwas zu klettern. Ja, vielleicht weit weit oberhalb, aber mit Kindern und Pads eine Stunde durchs Unterholz, um ein bisschen zu bouldern? Zum Glück muss das nicht sein. Ich gestehe mir ein etwas wurmiges Gefühl angesichts der klettertechnischen Arbeitslosigkeit ein, aber eigentlich, wird mir klar, brauche ich das gar nicht. Wieso sonst habe ich Sponsoren und diesen ganzen Überbau meiner Leidenschaft fahren lassen, wenn nicht für Situationen wie diese. Seit Wochen nicht wirklich an den Fingern gehangen, Bäuchlein wird immer rundlicher, Felsen keine in Sicht, dafür Landschaften wie eben jene im Tal des Futaleufu. Muss man da ans Klettern denken müssen?
Wir finden einen Campingplatz am Ufer des Flusses, niemand außer uns, nur die tief stehende Sonne und das Dampfen des Eintopfkessels. Was will man mehr? War ich jemals an einem so schönen Platz wie diesem? Sollte ich nicht aufrichtig einen trockenen Dreck geben auf einen Sport, den ich eben gerade, passlos und unfähig die Grenze zu überqueren, nicht ausüben kann und stattdessen meine Kinder und den schweren chilenischen Wein genießen? Wäre alles andere nicht irgendwie krankhaft?
Einen Tag später beschließen wir das Tal wieder nach unten zu fahren. Wenn schon nicht klettern, dann doch erkunden. Ziel ist das Nachbartal. La Palena. Oben nahe der Grenze noch Stockbrot und Feuer für Jules an einem weiteren wunderbaren Strand dieses Flusses. Immer wieder dieser Fluss. Ich habe nichts mit Wasser am Hut und finde mich doch nun schon seit Tagen verhext wieder von diesem tiefgrünen Wasser.
Unten stoßen wir auf einen weiteren Camping für die Nacht an wieder demselben Ufer. Schon wieder ein Camping, sie sind nicht teuer, aber auch nicht umsonst. Wann habe ich zum letzten Mal vier Nächte hintereinander bezahlend geschlafen, wenn ich auch anders konnte? Weiß nicht, aber hier sind die schönsten Plätze eben Campingplätze und insgeheim richte ich meine Leistungsmotivation längst auf das Finden möglichst schöner Stellplätze, statt dem Punkten harter Boulder. Typischer Panamericana-Virus.
Über den Fluss führt hier ein Dratseil, 200m lang, und am anderen Ufer erhebt sich eine 200m hohe Wand, da gibt es auch Blöcke. Vermutlich. Aber auch Wald. Ich suche schon wieder. Krankhaft ein bisschen. Ohne Seilrolle ist das Überqueren im Gurt echter Sport, drüben liegen ein paar Boulder im Dickicht. Da muss ich nicht durch, da find ich bestimmt noch was Besseres flussabwärts, denke ich mir, und schon verfolge ich diesen Weg das Ufer entlang. Hätte ich klettern wollen, hätte ich mich besser in Demut geübt und mir gleich die Haut an den Dornen gerieben, denn Kletterbares finde ich kaum noch, dafür einen Wechsel aus Blumenwiesen und dichtestem Dschungel, smaragdenem Wasser und Bäumen mit roter Rinde, Vögelrufen, einer Markierung, die riecht wie im Löwenkäfig, und die ich deshalb auf einen Puma schiebe, und einem riesigen Kondor über mir. El Condor pasa, ich fließe unten hindurch wie ein kleiner Entdecker. Am Ende schlage ich mich sogar noch einmal richtig ins Unterholz, finde ein paar ganz nette Blöcke, zurück am Drahtseil, dort wo ich schon gleich zu Beginn hätte fündig werden können mit etwas mehr Mut zur Verschmelzung mit diesem Wald, sogar noch ein paar mehr. Richtig gut sind sie hier. Komme ich jetzt mit den Matten zurück oder mit der Kamera?
Nachmittags baumele ich wieder über dem Fluss, Schwebestativ und Makro an mir dran. Kunst schlägt die Option auf ein paar Züge im Dickicht. Gut so, muss ich sagen. Krankhaftigkeit fürs Erste abgewehrt.
Es kann ja auch viel einfacher sein. Im Nachbartal, La Palena, in das wir am Abend fahren, liegen die Blöcke offen an der Straße herum, dazu ist es noch einmal ruhiger, aber dafür gibt auch der magische Fluss nicht mehr unseren steten Begleiter. Irgendwie chillen wir trotzdem in erster Linie, für mittelmäßige Boulder bin ich gar nicht so putzmotiviert. Hauptsache ein paar Züge und wir wissen jetzt ja auch, dass Romina aus Concepcion, die ohnehin ein Stück mit uns kommen wollte, mit unseren Pässen im Anmarsch ist, und wir also in den wahren Süden werden aufbrechen können. El Chalten. Da soll es so viele Blöcke geben, das man angeblich ganz dusselig im Kopf davon wird, alles schon fertig geputzt und markiert, warum sich also hier einen Tennisellbogen vom Bürsten holen?
Beim Baden am diesmal sehr kleinen Fluss holen wir uns unseren ersten Platten (nach hunderten Kilometern Piste und vermutlich von einem Nagel auf der Brücke des Dorfes). Schnell merken wir, dass das Wechseln eines Rades gar nicht so einfach ist, wenn man keinen Schraubenschlüssel in der richtigen Größe und einen zu niedrigen Wagenheber hat. Erst muss Jeanne uns mit ihrem Charme und ihrem Spanisch ein weiteres Mal aus der Material-Patsche helfen, dann bocke ich den fast drei Tonnen schweren Bus auf sandigem Boden halb auf einem Stein, halb auf einem Schneidebrett hoch. Der platte Reifen geht grade so weg, der pralle aber natürlich nicht drauf und also erstmal graben mit meinem super Klappspaten, mit dem ich sonst den Stuhlgang für die Nachwelt unsichtbar mache. Irgendwann ist das neue Rad dann drauf.
Gut, dass ich das Ding schon mal rausgesucht habe, schon am nächsten Tag brauche ich es wieder. Diesmal noch etwas dringlicher.
Wir stehen an einem weiteren Platz Marke versuch erst gar nicht ein Hotel in dieser Lage zu finden. Blöcke fünfzig Meter weit weg, trockenes Grasland, sogar ein erster Offroad springt für den Sprinter heraus. Ich war gerade mit Jules auf dem Klo, habe ihm gezeigt, wie man vorbildlich sein Klopapier abfackelt und sitze jetzt auf unserer Panoramacouch hinten im Bus, da ruft Jeanne: „Was brennt denn da?“ Ich denke natürlich: „Scheiße!“ und rechne damit, dass der kleine Funken im toten Holz, den ich vor 10 Minuten dann doch nicht ausgepieselt habe, ein paar Flammen schlägt, aber Pustekuchen: Unweit des Busses brennt der halbe tote Baum hinter uns auf acht Metern Länge und die Flammen schießen schon einen guten Meter empor. So sieht echte Scheiße aus!
Wir haben einen Feuerlöscher im Bus, denn der ist in Argentinien in Wohnmobilen Pflicht, leider aber auch genau so schnell leer. So etwa nach zehn Sekunden. Ein paar Flammen züngeln weniger, noch immer aber herrscht lichterloher Brand. Zum Glück liegt der Baum in der Weide und nur über Funkenflug wäre der 50m entfernt liegende Wald von der Brunst anzustecken, auf Funkenflug ist bei dem trockenen Wind hier allerdings Verlass.
Wir rennen also, was wir können, die hundert Meter zum Fluss mit je 20l Wasser, aber auch das ändert nicht wirklich viel. Der Stamm brennt vor allem innen, von unten heraus, das Wasser kommt gar nicht wirklich an den Herd hin. Erst schlage ich Sand vor, aber Sand gibt es hier nicht, dann kommt die Idee mit dem Klappspaten und Erde, dazu die kleine Axt. Wir malträtieren und überkrümeln den Baum aus Leibeskräften und langsam schwindet das Gefühl von machtloser Panik. Nicht nur weil der Neffe des Besitzers, der uns gestern noch netterweise auf seinen Grund gelassen hatte, sehr hilfsbereit und gelassen reagiert. Er holt eine größere Axt und eine größere Schaufel und zur Belohnung darf er Jeanne in ihren kurzen, engen Hosen beim Hacken zuschauen. Scheint ihm zu gefallen. Nach 20 Minuten zeichnet sich ab, was ich zu Beginn ehrlich gesagt für ziemlich unwahrscheinlich gehalten hatte: wir bekommen den Brand unter Kontrolle. Ich denke darüber nach ein Buch mit dem Titel Der Klappspaten ist die bessere Axt zu schreiben. Das klänge dann nach fiesem Krimi mit unmenschlich stumpfen Mordwaffen und könnte eine kitschige Reisebeschreibung voller pummeliger Liebesaffären werden.
Der Neffe studiert Geschichte und erzählt uns während der Arbeit wie ganz nebenbei vom Schicksal der hiesigen Indianer. Von Siedlerkrankheiten mangels Kontakt weitgehend verschont wurden sie vom chilenischen Staat noch bis Ende des 19. Jahrhunderts an zahlende Europäer zur Menschenjagd verkauft. Mehrere Zehntausend wurden auf diesem Wege von extra dafür angereisten Touristen abgeschossen. Der Rest dann in europäische Zoos exportiert. 2013 starb der letzte xxx und mit ihm eine Kultur und eine Sprache.
Plötzlich kommen uns unser möglicher Waldbrand, unsere Reise und wir selbst an sich ganz klein vor, und doch müssen wir das Feuer weiter bearbeiten, bis es gänzlich erloschen ist.
Irgendwie schwitzend und irgendwie konfus vor der Größe der Grausamkeit stehen wir anschließend über den Spaten. Wir schweigen und es wäre auch hier an der Zeit jetzt zu schweigen, oder die Geschichte dieser Indianer zu erzählen. Aber kaum jemand weiß viel über sie. Ich am allerwenigsten. Und so bleibt uns nur die Profanität unserer eigenen Wirklichkeit, salzige Wangen, der Geruch von Rauch auf der Haut und eben die für diese Breiten Patagoniens ganz und gar nicht selbstverständliche Hitze von fast 30°, die wir längst schon ganz routiniert sich über uns gießen lassen.
Schließlich verfolgt uns der Sommer eigentlich schon, seit wir vor vier Wochen südamerikanischen Boden betreten haben. Es ist Sonntag, der 10. Januar und morgen soll es dann in den wirklichen Süden gehen. 1200km bis El Chalten. Ein bisschen Haut konnte ich hier schon züchten, ein ganz klein wenig Form vielleicht auch, aber generell ist es schwierig, in einem Land, das in erster Linie Fleisch, Weißmehl und Zucker ohne Beilage verzehrt, überhaupt auf Wettkampfgewicht zu kommen, will man nicht hungern. Und hungern will ich nicht. Lieber überfalle ich das erste Geschäft auf unserem Weg, in dem es irgendwie halbwegs gesundes Essen gibt, mit meiner Allzweckwaffe: dem Klappspaten. Bis dahin, oder bis uns in ein paar Monaten die 4000m und die nächtliche Kälte des Altiplano die Fettreserven wegfressen werden, machen wir erst einmal weiterhin, was wir schon seit acht Wochen machen: Ferien. Ist ja auch Sommer!
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