Eine Woche Warten auf den Bus und Sommer in Buenos Aires (Versuch einer grünen Reise, Kapitel 2, 12.12.15 – 18.12.15)
Buenos Aires nach drei Wochen über Mittelmeer und Atlantik beginnt so: Der Typ ist dick, fast fett, und grau. Ein Rentner wie alle anderen hier. Nichts Besonderes. Wir stehen Schlange am Ausgang des Terminals mit unserem Gepäck, dem Rucksack und dem Rollkoffer, in denen auch Steine sein könnten, aber Haken sind, eine Bohrmaschine, Hammer, das Übliche. Und dann mein kleiner, silberner Koffer mit der Fotoausrüstung. So um die 10.000 Euro. Mafiastyle. Er steht direkt vor mir auf meinem Wagen.
Der dicke Typ geht neben uns, steht neben uns, ein bisschen nah, es gibt eigentlich Platz rechts und links. Wir sind es gewöhnt nach den Wochen auf dem Schiff. Haben sich nicht sehr viele der anderen Gäste merkwürdig bewegt, die Situation nicht immer überrissen, waren sie nicht reaktionsschwach gewesen, langsam. Einer hat einmal Aliénor, die im Gang auf dem Boden krabbelte, über den Haufen gelaufen, obwohl er knapp zehn Meter Zeit hatte, sie zu entdecken.
Wir nähern uns dem Tor des Terminals. Dahinter beginnt die echte Reise, nur noch ein paar Tage und auch unser Auto wird argentinischen Boden unter den Füßen spüren. Solange bleiben wir hier in der Stadt. Es gibt noch eine ganze Menge Formulare durchzuwälzen.
Richtung Ausgang des Terminals zur Straße hin wird es noch einmal etwas enger, Jeanne muss den dicken Typen gegen einen Pfosten drücken, so ungeschickt hängt er an uns. Er beschwert sich nicht einmal. Aber waren sie nicht alle ein bisschen stoisch diese Leute auf dem Schiff? Das Wort Stupor schwirrte immer wieder durch meinen Kopf, wenn ich sie sich bewegen sah. Dann sind wir durch und draußen, schauen uns nach einem Taxi um, mein Wagen vor mir, direkt vor meinen Knien der Koffer. Er hängt ein bisschen schief zwischen dem Gestänge des Trolleys. Und dann, man kann nicht einmal plötzlich sagen, greift ihn sich der dicke Typ und dreht sich weg. Macht sich davon. 10.000 Euro! Ich kann es schier nicht glauben. 120kg Schwabbelmasse versuchen allen Ernstes mir meine Berufsgrundlage zu entziehen. Oder will er den Koffer nur wieder richtig auf den Wagen stellen? Mir am Ende nur helfen? Die Situation ist nicht ganz klar. Vorsichtshalber trete ich mit einem Schritt neben den Fliehenden hin, der doch nicht einmal rennen kann, so schwer ist er, und nehme mir mit einem „Fuck you!“ den Koffer wieder zurück. Er versucht nicht ihn zu verteidigen, stammelt irgendwas auf Spanisch, so dass ich wieder kurz denken muss, er wollte mir nur helfen. Dann aber hoppelt er davon und es ist klar, dass dieser alte Sack tatsächlich meinen Koffer klauen wollte. Erstaunliche Selbstüberschätzung. Vor allem wenn man bedenkt, dass Touristen zu beklauen in Argentinien besonders hart bestraft wird. Oder man stelle sich mal vor, ich wäre etwas heißblütiger. Ich hätte ihm mit vollem Recht den Kiefer brechen können. Nicht moralisch, aber zumindest juristisch.
Buenos Aires. Ziemlich heiß, ziemlich viel Beton, der macht es noch heißer. Wenige Parks und ein neuer Präsident, der gerade ein paar Tage vorher das Amt angetreten hat. Macri. Demonstrationen. Anarchos auf dem Hauptplatz. Nette Stadt. Nicht extra schön, aber mit Flair. Unter dem Hotelzimmer beginnt die Party gegen zwei Uhr morgens und hat bei Tagesanbruch noch nicht aufgehört.
Einen Tag vor uns hätte unser ausgebauter Sprinter kommen sollen, am 11.12., inzwischen heißt es 15. Das wäre der gleiche Tag, an dem meine Mutter nach Hause fliegt, perfektes Timing. Wir brauchen noch Versicherung, einen Hafenagenten, die Verschiffungsrechnung im Original, um den Wagen auszulösen. Dürfte sich in drei Tagen machen lassen, wäre auch gut, denn Buenos Aires ist für uns, die wir verplant haben, riesige Mengen Bargeld mitzunehmen, die wir dann auf dem Schwarzmarkt hätten tauschen können, teuer. Fast teurer als die Schweiz. Ein Überraschungsei kostet 2,50€, eine Flasche Wasser im Supermarkt 1,70€, ein Buch 25€ und ein I Phone 6 2200€. Wir verstehen die Argentinier auf dem Schiff, die sich in Europas Hafenstädten dumm und dämlich schoppten (wie schreibt man dieses Wort?).
Aliénor macht ihre ersten zusammenhängend gelaufenen Meter vor dem Verteidigungsministerium, um das sich die Spezialkräfte hinter Barrikaden scharen. Auch ohne sich informiert zu haben, merkt man: da hat jemand Unpopuläres vor.
Wir klären das Bürokratische, zum Glück auf unsere Weise, denn Seabridge, unsere Verschiffungsagentur, nennt in ihren Unterlagen nur die teuersten Adressen. Es ist sehr hilfreich, wenn man wie Jeanne perfekt Spanisch mit südamerikanischen Akzent spricht. Der Agent gibt grünes Licht für Zoll und Hafen, fehlen nur noch die Dollars, die wir möglicherweise in Uruguay, also gleich jenseits des Rio de la Plata, besorgen könnten und natürlich unser Bus. Der soll erst am 16., dann am 18., dann wieder 16. und schließlich am 17. in Zarate, 90km nördlich, ankommen. Seabridge, die ja nur für die Vermittlung zwischen Kunden und dem Transportunternehmen ordentlich abkassieren, halten sich bedeckt bei allen unseren Anfragen. Es sind mit der Zeitverschiebung schließlich nicht immer deutsche Öffnungszeiten und dann schicken sie auch noch die falschen Adressen in für schwache Internetverbindungen nicht zu öffnenden Formaten. Unterstützung sieht anders aus.
Nur unter großer Trauer trennt sich Jules von seiner Oma und wir haben inzwischen festgemacht, nicht wie zunächst angestrebt, direkt nach Süden durchzustarten, sondern als erstmal nach Santiago de Chile und also einmal über quer den Kontinent zu fahren. Dort leben mehrere Freunde von uns, es soll schöne, hoch gelegenen Bouldergebiete geben und dort kommen wir auch an die Devisen, ohne die Argentinien, selbst wenn das Umland etwas günstiger als die Hauptstadt ist, für unser Reisebudget nicht zu machen ist. Außerdem haben wir Jules einen Hund zu Weihnachten versprochen, den könnte man dann auch dort holen. Mit dem soll er sich austoben können, wenn die Eltern mal wieder in der Sonne liegen, Wein trinken und lesen wollen und der soll uns natürlich auch beschützen vor den Gunman, von denen wir schon viel gehört haben. Ein guter Freund, der aus Buenos Aires stammt, wurde sogar schon vor der Haustür entführt, um ihm das Auto zu klauen und mehrmals mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt.
Unser Auto kommt dann letztendlich am Abend des 17., kann aber erst am Freitag, den 18., abgeholt werden, sogar die Kosten konnten wir schon erfragen (Seabridge weiß auch in diesem Punkt nichts genaues und gibt 900 Dollar statt 250 an, erst später werden wir wissen warum), denn zu viel dieser superteuren Pesos wollen wir auch nicht abheben.
Uns bleiben zwei Tage um die Stadt zu genießen. Die Leute, selbst die, die schon morgens an den Bordsteinen kleben, sind extrem freundlich und zuvorkommend, von der Gefahr, die im Internet besungen wird, ist nichts zu spüren. Im kitschigen Boca-Viertel (Boca Juniors) werden wir mit mehreren Litern Bier von einem Gitarrensoloisten bespielt. 28° im Schatten. Sonnenschein. Was will man mehr? Der Sommer kommt. Ja, es ist wahr, und erstaunlich schwer für den ganzen Organismus zu verstehen, dass jetzt, kurz vor Weihnachten, der Sommer kommt. Lange Tage, warme Nächte, schönes Leben. Dieses Gefühl nur Monate nach dem wärmsten Sommer meines Lebens wieder zu aktivieren, mich hinein zu stürzen, ist gar nicht leicht. Das viele Bier macht die Sache aber um einiges leichter.
Jules singt „Cambio, Cambio!“ vor sich hin, das Wort, das die Schwarzmarkttauscher dieser Tage in allen Straßen noch viel intensiver als Anfang der Woche, man könnte auch verzweifelt sagen, rufen, denn er hat es angekündigt, der neuen Präsident: der sogenannte CEPO könnte fallen. Die künstliche Währungskorrektur der Vorgängerregierung, die die Devisen der Zentralbank in vier Jahren niedergebrannt hat, um die Lebenskosten einigermaßen niedrig zu halten, die aber Ausländern, die den offiziellen Kurs bezahlen das Leben hier teuer macht. Wir werden allerdings auch mit CEPO immer wieder nach dem Sandwich angebettelt, das wir gerade essen. In einem Land, das auf den Besucher einen Eindruck kaum anders als Spanien macht, gehen Jugendliche durch die Metro und fragen nach Brot für die Geschwister. Das Mitgefühl der Bessergestellten, die viel öfter etwas geben, als man es aus Europa gewohnt ist, nicht nur Geld, auch Aufmerksamkeit für z.B. die Straßenmusikanten, kann einen Wohlfahrtstaat aber offensichtlich nicht ersetzen. (Kennen wir ja auch in noch viel krasserer Form aus Indien.)
Bleibt sogar noch die Zeit für einen Besuch in der Boulderhalle. Kletterer, die sich netterweise angeboten hatten, uns mit Infos zu versorgen, und die in der Vermutung, wir hätten Geld wie Heu, unser Treffen in ein Restaurant verlegten, in dem wir für drei Erwachsene gleich mal knapp 80€ löhnten, haben uns die Adresse gegeben mit der Warnung, das Haus sei sehr marode. Die Boulderhalle ist es auch und nach vier Wochen ohne einen einzigen Klettergriff zwischen den Fingern, fühle ich mich wie ein nasser Sack, aber das Gebäude ist fantastisch. Leider habe ich die Kamera nicht dabei. 120 Jahre alt, 90 Eigentümer, Aufzüge, an denen man sich den Arm abreißen kann, wenn man zu langsam ist, einem riesigen Lichthof mit umlaufenden Balustraden, gesprungenen Scheiben und Toiletten nur auf dem Gang. Wenn es nur solche Häuser bei uns noch gäbe!
Dann kommt der große Tag. Ich habe den Bus, den Jeanne über einen Umweg zu ihrem Bruder nach England schon gleich nach Indien Anfang Oktober nach Hamburg an den Hafen brachte, über zwei Monate nicht gesehen. Keiner weiß, wie er den Seeweg überstanden hat. Versicherung haben wir vergessen abzuschließen. Bis zum Totalschaden haben Kunden im Ankunftshafen schon alles vorgefunden. Morgens stellen wir erst einmal fest, dass die essentielle! Verschiffungsrechnung in einer Pfütze Wasser schwimmt, also noch schnell über den Schrank gehängt zum trocknen. Das Taxi, für das wir uns entschieden haben, weil wir bis kurz vor knapp noch dachten, den Hund schon hier einsammeln zu können, steigt in den Minuten vor der Abfahrt noch einmal um 30€ im Preis. Aber das erfährt man erst, wenn die Koffer schon im Wagen liegen. Jetzt auch egal, Hauptsache wir kommen da schnell hin und lösen den Bus noch heute aus, denn dann ist erstmal Wochenende und wer weiß, ob das Hafenpersonal vor Weihnachten noch mal zur Arbeit kommt.
Es fängt gut an. Wir können unser Geld nicht finden, durchwühlen alles, schließlich steckt es in der Legotüte. Der Taxifahrer ist sehr nett und fährt Jeanne noch über das weitläufige Gelände zur nächsten Papierkramstelle, erzählt ihr in den Wartezeiten sein ganzes Leben. Am Ende bleibt er noch fast drei Stunden bei uns.
Es ist 11 Uhr vormittags. Man schließt um fünf. In zwei Stunden sind wir auf der Straße, rechne ich, und bewache mit den Kindern das Gepäck. Der erste Schritt läuft beinahe reibungslos, nur der Kostenvoranschlag, den wir extra beim Hafen eingeholt hatten, war falsch und wir haben zu wenig Geld. Zum Glück treffen wir auf zwei Münchner, die auch ihren Pick-up holen, und die uns aushelfen. Dann erstmal Mittag. Die Pause zieht sich, ich mag die etwas weichere Arbeitsmoral. Wir haben ja keinen Stress.
Dann zum ersten Mal zum Auto. Dürfen wir es jetzt schon mitnehmen? Ich warte. Jeanne kommt wutentbrannt zurück, der Agent, der grünes Licht gegeben hatte, hat Scheiß gebaut, obwohl wir in explizit auf die Zollunterlagen angesprochen haben. Jetzt fehlen genau die. Seabridge hat sich auch nicht gekümmert. Wir beginnen uns zu fragen, ob die überhaupt wissen, was auf südamerikanischer Seite passiert, geschweige denn, mit was für Leuten sie da arbeiten. Die Münchner haben uns von einer Seabridge-Agentin erzählt, die bei jedem Verwaltungsschritt 150 Dollar abkassierte, in dem sie vorgab, man bekäme den Wagen sonst erst in ein paar Tagen. Die armen Kunden, die ja kein Spanisch konnten (und Englisch kann hier keiner), zahlten. Deshalb auch die 900 Dollar Kostenschätzung (später wird es ein bisschen mehr als die Hälfte kosten, beziehungsweise eigentlich weniger, denn der Pesokurs beginnt genau heute, da wir alles Geld abgehoben haben, kontrolliert abzustürzen).
Jeanne auf jeden Fall rennt nur an mir vorbei, sie hat sich schon einen Fahrer geangelt, und muss jetzt erst einmal in den Nachbarort, um dort die Zollpapiere zu bekommen. Dort angekommen, hat sie weder meinen Führerschein, noch meine Unterschrift, noch die Versicherungsunterlagen im Original dabei. Letztere lassen sich telefonisch organisieren, der Rest nur fälschen oder eben in seiner Wichtigkeit herunterreden. Zum Glück ist es ein windiger Tag und sie trägt ein kurzes Kleid. Es bleiben noch zwei Stunden. Eigentlich nicht zu machen. Die Münchner hängen schon seit über einer Stunde bei ihrem vor- oder vorvorletzten Schritt. Ich befasse mich während ich ganz old school vollkommen ohne Kontaktmöglichkeit zu Jeanne weiter warte mit dem Plan B für das Auto erst am Montag holen: Die Nacht im Hotel in Zarate? 75€. Wäre inklusive Essen mal wieder ein halbes Monatsbudget.
Im Zollamt bricht das System zusammen. Warten. Noch eine gute Stunde, dann geht es wieder. Man empfiehlt Jeanne jetzt erstmal ordentlich Schmiergeld abzuheben, denn die Folgeschritte seien noch niemals in einem halben Stunde ausgeführt worden. Aber es gibt kein Geld. Bankrun heißt das Gebot der Stunde. Alle wollen jetzt, da sich ihr Geld entwertet, noch ein paar harte Werte schaffen. Also ohne Schmiere. Man empfiehlt ihr richtig rumzuheulen.
Ich stehe derweil seit nun sechs Stunden unter der gleichen Sonne und versuche die Kinder bei der Stange zu halten. Außerdem horte ich Kekse, die wir packungsweise geschenkt bekommen und lasse mir Tipps vom oberkorrekten Aufpasser geben. Er schreibt diese auf Zettel. Z.B.: Wosh you cids. Erst denke ich er schlägt mir vor, die Sanitäreinrichtungen gegenüber zu benutzen, dann merke ich anhand der Aussprache, dass er will, ich möge besser auf meine Kinder aufpassen. Jeanne kommt vorbei gerannt, es ist 16:38 Uhr und sagt, ich solle um einen Aufschub betteln. Ich radebreche mich am Schalter durch. Wir werden sehen.
Jeanne heult derweil schon kräftig und tatsächlich, sie schafft den Zarate-Weltrekord in der Zollabfertigung. 15 Minuten und gratis statt wie sonst mindestens einer Stunde plus 150 Dollar Schmiergeld. Es ist schon gut nach fünf und ich habe bereits alle Hoffnung aufgegeben, da kommt die Rampensau, wie wir unseren gepanzerten Polizeibus nach dem ersten Dirtroad-Einsatz in den Bergen später nennen werden, durch die Schranke gerollt. Mir fällt ein Schwein vom Herzen. Jeanne ist vollkommen am Ende. Wir haben unseren Bus trotz Seabridge heute noch raus bekommen! Wohl kein anderen ihrer Kunde hätte Ähnliches unter gegebenen Bedingungen hinbekommen und würde erst einmal ein Wochenende in einem der gefährlichsten Orte Argentiniens verbringen und ein paar hundert Euro zusätzlich löhnen. Wir dank Jeanne nicht.
Der Roadtrip kann beginnen! 1400 Kilometer bis nach Santiago de Chile.